Steuerrechtsurteile

Steuerpflichtige können trotz Vorläufigkeitsvermerks Einspruch einlegen und das Ruhen des Verfahrens beantragen



Steuerpflichtige können grundsätzlich auch wegen der vom Vorläufigkeitsvermerk erfassten Punkte Einspruch gegen den Steuerbescheid einlegen und das Ruhen des Verfahrens beantragen. Die Finanzämter dürfen einen solchen Einspruch nicht ohne weiteres durch Teil-Einspruchsbescheid gemäß § 367 Abs.2a AO zurückweisen. Denn ein Vorläufigkeitsvermerk hält das Verfahren nicht für den Fall offen, dass eine Steuernorm, anstatt für verfassungswidrig erklärt zu werden, zugunsten der Steuerpflichtigen verfassungskonform ausgelegt wird.

Der Sachverhalt:
Das beklagte Finanzamt hatte gegenüber dem Kläger einen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2005 erlassen und diesen hinsichtlich verschiedener beim BVerfG und BFH anhängiger Grundsatzverfahren mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen. Der Vorläufigkeitsvermerk enthielt unter anderem den Hinweis: „Änderungen dieser Regelungen werden von Amts wegen berücksichtigt; ein Einspruch ist insoweit nicht erforderlich.

Der Kläger legte gegen den Einkommensteuerbescheid Einspruch ein und bat darum, das Verfahren wegen der Vielzahl anhängiger Gerichtsverfahren ruhen zu lassen. Die Einspruchseinlegung sei geboten, weil die Reichweite des Vorläufigkeitsvermerk unklar sei. Im Übrigen böten Vorläufigkeitsvermerke nicht den gleichen Rechtsschutz wie ein Einspruch. Denn der Vorläufigkeitsvermerk halte das Verfahren nur für die Fälle eines gerichtlich festgestellten Verstoßes einer Norm gegen höherrangiges Recht offen und nicht für den Fall, dass eine Norm zugunsten der Steuerpflichtigen verfassungskonform ausgelegt werde.

Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos. Das Finanzamt erließ einen Teil-Einspruchsbescheid gemäß § 367 Abs.2a AO. Es entschied nicht über die Frage der "Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten” und wies den Einspruch im Übrigen als unbegründet zurück. Mit seiner Klage beantragte der Kläger, die Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheids 2005 festzustellen, und hilfsweise, den Teil-Einspruchsbescheid aufzuheben.


Die Klage hatte hinsichtlich des Teil-Einspruchsbescheids Erfolg. Das FG ließ allerdings insoweit die Revision zum BFH zu.


Die Gründe:
Der angefochtene Teil-Einspruchsbescheid ist aus mehreren Gründen aufzuheben. Das Finanzamt muss außerdem den Vorläufigkeitsvermerks bestimmter und verständlicher formulieren.


Rechtswidrigkeit des Teil-Einspruchsbescheids
Wer einen Einspruch einlegt, hat zwar grundsätzlich keinen Rechtsanspruch darauf, dass möglichst lange nicht über den Einspruch entschieden wird, um dann eventuell von vielen Entwicklungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung profitieren zu können. Ist aber wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren beim EuGH, BVerfG oder BFH anhängig und wird der Einspruch hierauf gestützt, ruht nach § 363 Abs.2 S.2 AO das Einspruchsverfahren insoweit. Diese Zwangsruhe gilt nur dann nicht, wenn die Steuer vorläufig festgesetzt worden ist.


Nach diesen Grundsätzen durfte das Finanzamt im Streitfall keinen Teil-Einspruchsbescheid erlassen. Teil-Einspruchsbescheide nach § 367 Abs.2a AO dürfen nach ihrem Sinn und Zweck nicht eingesetzt werden, um zu verhindern, dass Steuerpflichtige in Einspruchsverfahren womöglich weitere Rechtsschutzbegehren nachträglich vortragen. Ein Teil-Einspruchsbescheid darf vielmehr nur ergehen, um über den entscheidungsreifen Teil des Einspruchs zu entscheiden, wenn dies sachdienlich ist.


An der Sachdienlichkeit fehlt es, wenn die Finanzverwaltung – wie hier – über einen Einspruch, der insgesamt die vorläufige Steuerfestsetzung betrifft, zum Teil endgültig entscheiden will. Auch eine etwaige Arbeitsüberlastung der Finanzverwaltung angesichts des steten Anstiegs der Rechtsbehelfsverfahren rechtfertigt in diesem Fall nicht den Erlass eines Teil-Einspruchsbescheids. Für die Kompliziertheit und Streitanfälligkeit des Steuerrechts ist nicht der Steuerpflichtige, sondern der Gesetzgebers verantwortlich.


Vorläufigkeitsvermerk unzureichend
Der Vorläufigkeitsvermerk, den die Finanzverwaltung regelmäßig beifügt, ist zudem nicht ausreichend. Er erweckt beim steuerlichen Laien den unzutreffenden Eindruck, dass er von einer steuerfreundlichen Rechtsprechung auf jeden Fall profitiert. Ein Steuerbescheid kann aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks aber beispielsweise nur geändert werden, wenn das BVerfG ein Steuergesetz für verfassungswidrig erklärt und nicht wenn das Steuergesetz verfassungskonform ausgelegt werden kann. In diesen Fällen kann effektiver Rechtsschutz nur durch ein Einspruchsverfahren, verbunden mit einer Verfahrensruhe erreicht werden.


Steuerbescheid nicht nichtig
Trotz der Unwirksamkeit des Vorläufigkeitsvermerks ist der angefochtene Steuerbescheid nicht nichtig. Denn das Finanzamt wollte die Einkommensteuer für das Streitjahr auf jeden Fall - ob vorläufig oder nicht - festsetzen.


Linkhinweis:
Für den auf der Website des Niedersächsischen FG veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.




Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 08.05.2008; Quelle: Niedersächsisches FG PM vom 07.05.2008


(Meldung vom 2008-05-09)